
Der Wandel von Midda
Abgeschlossenes Projektgebiet Midda (2000 - 2013)
Vierzehn Jahre baute Menschen für Menschen im Projektgebiet Midda Schulen, lehrte Bauern nachhaltige Landwirtschaft, grub mit ihnen Brunnen, forstete das Land auf und vergab Mikrokredite. 2013 zog sich die Stiftung aus der Region zurück. Ein Besuch zeigt: Die Menschen haben die Starthilfe genutzt. Midda hat sich grundlegend gewandelt.
Veröffentlicht am 23. November 2019
Jeden September am Ende der Regenzeit feiert Äthiopien das Meskel-Fest im Gedenken an das Auffinden des Kreuzes Jesu‘. Alles ist farbenfroh geschmückt. Auf dem Land ziehen Kinder und Jugendliche von Haus zu Haus, singen und bekommen dafür ein paar Münzen in die Hand gedrückt. Ein Freudenfest.
Doch wenn Aguwaguwash Meridew von den Feierlichkeiten vor 16 Jahren erzählt, weicht jedes Lächeln aus ihrem Gesicht. „Mein Mann und ich suchten unsere Hütte nach etwas Geld ab. Wir fanden nicht einmal ein paar Cent.“ Schließlich mussten sie die jungen Sänger mit leeren Händen wegschicken.
Aguwaguwashs Wunsch erfüllt sich – dank Willensstärke und Menschen für Menschen
Ein Tabu und schreckliches Omen, denn wer nicht wenigstens ein paar Münzen Geld gibt, werde – so der Glaube – das nächste Meskel-Fest nicht mehr erleben. Weinend betete das Ehepaar und versprach sich, nie wieder in eine solche Situation zu geraten. Ein Wunsch, der sich erfüllen sollte. Dank Menschen für Menschen und Aguwaguwashs Willensstärke.
Die Familie lebt in Meragna, Bezirkshauptstadt der Region Midda, etwa sechs Autostunden von Addis Abeba entfernt. Am frühen Morgen bewegt sich auf den Straßen der Stadt ein Meer aus blauen Uniformen. Hunderte Schüler eilen zum Unterricht – vorbei an den Werkstätten und einem Laden für Baumaterialien.
Diese werden in der Stadt dringend benötigt: Für das zweistöckige Einkaufszentrum am Ortseingang, für die Neubaugebiete und für das Mietshaus, dass Aguwaguwash und ihr Mann Abreham neben ihrem Eigenheim errichten.

Als Menschen für Menschen im Jahr 2000 die Arbeit im zentraläthiopischen Hochland begann (LINK), sah die Situation anders aus. Midda gehörte zu den ärmsten Gebieten des Landes. 90 Prozent der damals etwa 100.000 Einwohner lebten von Land- und Viehwirtschaft. Fiel eine Ernte der Dürre zum Opfer, hungerten viele Familien.
Für die stark wachsende Bevölkerung fehlten Ackerflächen, sauberes Trinkwasser, Krankenhäuser, Schulen und Lehrstellen. Wie in anderen Regionen, in denen sich die Stiftung engagiert, konnten auch im Projektgebiet Midda die Probleme nie isoliert betrachtet werden.
Mädchen, die täglich Stunden damit verbrachten, aus entlegenen Flüssen und Bächen dreckiges Trinkwasser zu schöpfen, verpassten häufig die Chance, eine Schule zu besuchen. Familien, die mit ihrem Vieh in einem Raum hausten, gefährdeten ihre Gesundheit, das Abholzen der Wälder für den Bau ihrer Holzhütten schädigte die Umwelt und Äcker.
Menschen in Midda von Anfang an eingebunden
Seit über 37 Jahren ermöglicht die Stiftung Menschen für Menschen der Bevölkerung in ländlichen Gebieten, ihre Lebensbedingungen langfristig aus eigener Kraft zu verbessern. Von Anfang an werden sie dafür in die Aktivitäten eingebunden: Sie graben den neuen Brunnen und lernen ihn zu reparieren, Schulen werden lokalen Behörden anvertraut.
So trägt das Engagement der Stiftung auch nachhaltig Früchte, denn wer einmal positive Veränderungen begleitet und beeinflusst hat, übernimmt Verantwortung, wenn sich die Äthiopienhilfe nach meist zehn bis 15 Jahren aus den Projektgebieten zurückzieht.
Wie dieser Ansatz auch dauerhafte Abhängigkeit von einer externen Hilfe verhindert, kann man – fünf Jahre nach Ende der Stiftungsarbeit – in Midda beobachten.
Um Frauen zu fördern, ihnen ein Einkommen und Unabhängigkeit zu ermöglichen, rief Menschen für Menschen 2006 in Midda acht Mikrokreditgemeinschaften ins Leben. Insgesamt traten damals 49 Frauen ein. Aguwaguwash war eine von ihnen. Jede, die wie sie eine erfolgsversprechende Geschäftsidee vorweisen konnte, bekam 1.000 Birr, umgerechnet nur etwa 31 Euro, damals jedoch viel Geld, das als Startkapital reichte.
Aguwaguwash investierte es in Obst und Gemüse, das sie bei lokalen Bauern und von Händlern aus Addis Abeba kaufte, und bot sie auf dem Markt in Meragna an. Mit Erfolg. Von ihrem nächsten Kredit mietete sie eine Wellblechbude am zentralen Kreisverkehr der Stadt und verkaufte Plastikschuhe.

Das erste Mal in ihrem Leben konnte sie etwas Geld sparen – für sich, ihren Mann und ihre vier Töchter, denen sie bieten wollte, was ihr verwehrt blieb: Bildung.
Schon mit 13 Jahren hatte sie die Schule abgebrochen, weil sie ihrer alleinerziehenden Mutter zu Hause helfen musste. Bis auf ihre jüngste Tochter, die fünfjährige Redet, die den Almaz Böhm Kindergarten in Meragna besucht, studieren die älteren Töchter oder haben bereits einen Hochschulabschluss. „Meine größte Angst war, dass wir als Analphabeten beschimpft werden. Ich bin so froh, dass es anders gekommen ist!“, sagt Aguwaguwash inmitten ihres geräumigen Wohnzimmers mit Couchgarnitur und schicker Holzvitrine.
Seit vergangenem Jahr betreibt die 40-Jährige neben ihrer Schuhboutique auch noch ein Café. Besonders stolz ist sie auf Ehemann Abreham. Wie sie brach er die Schule frühzeitig ab, um seinen Militärdienst zu leisten. Zurück in Meragna holte er seinen Schulabschluss an einer Abendschule nach und machte per Fernkurs einen Abschluss in Buchhaltung.
"Das schaffen wir jetzt auch allein"
„Ohne meine Frau, die uns alle finanziell unterstützt und sich um die Kinder gekümmert hat, die mich immer motiviert, mich weiterzubilden, hätte ich das nicht geschafft“, sagt der 50- Jährige, der bei der Bankfiliale gegenüber des Wohnhauses arbeitet und noch ein Bachelorstudium absolviert.
Mit seinem Monatslohn von umgerechnet 50 Euro und Aguwaguwashs Einnahmen von monatlich etwa 490 Euro konnte das Ehepaar den letzten Kredit vollständig tilgen. Ihren Neubau wollen sie nun ohne Darlehen stemmen. „Das schaffen wir jetzt auch allein.“


„Ich wollte nicht, dass Menschen für Menschen uns verlässt, doch als mir eine Mitarbeiterin erklärte, dass es vielen Menschen in anderen Gebieten des Landes so schlecht geht wie einst uns, verstand ich, dass ich sie gehen lassen musste“, erinnert sich die 39-jährige Ayinalem Belete in ihrer Bar.
Es duftet nach frisch aufgebrühtem Kaffee und Popcorn, das sie Gästen anbietet. Das Gebäude, in dem sie heute ihre Kneipe betreibt, war einst alles, was sie hatte. Hier wohnte sie mit Mann und den Kindern, hier servierte sie das lokale Bier „Tella“. Umgerechnet etwa sechs Euro nahm sie damit in der Woche ein. Davon zahlte sie die Pacht für einen kleinen Acker, den ihr Mann bestellte.
Mikrokredit veränderte alles
„Das Leben war hart“, sagt Ayinalem. „Nur weil uns meine Eltern und Brüder häufig etwas Essen zusteckten, mussten wir nicht hungern.“ Um etwas an der Situation zu ändern, trat sie wie Aguwaguwash in eine Mikrokreditgruppe ein und stockte mit dem ersten Kredit das Sortiment in ihrer Bar um Bier und Softdrinks auf.
Ihr Konzept ging auf. Sie bezahlte den Kredit plus Zinsen zurück und nahm schon bald ein weiteres Darlehen auf. Das fiel höher aus, wie bei allen Frauen, die bewiesen, dass ihre Geschäftsidee funktioniert und sie mit Geld umgehen können.
Über die Jahre errichtete sie hinter der Bar ein Wohnhaus und ein Mietshaus. Sieben Zimmer kann sie vermieten. Den letzten Kredit investierte sie in eine Kuh, die wenig später ein Kalb zur Welt brachte. Beide stehen mit weiteren Tieren in einem Stall im hinteren Teil ihres Grundstücks.

Mit dem Barbetrieb, Verkauf der Milch und Zimmervermietung nimmt sie umgerechnet etwa 170 Euro im Monat ein. Damit bezahlt sie den Kredit ab und möchte mit einem weiteren Darlehen ihr Getränkeangebot und die Viehzucht erweitern. „Außerdem plane ich, die Bar und mein Haus umzubauen“, erzählt sie und kramt einen Bauplan aus dem Regal. „Dann werde ich sogar eine eigene Dusche haben.“
Heute gibt es 13 Mikrokreditgemeinschaften in Midda
Über Zinsen und Tilgungen der Kredite finanzieren sich alle der inzwischen 13 Mikrokreditgemeinschaften in Midda selbst. Sie haben sich zu einer Union zusammengeschlossen, die insgesamt über umgerechnet 930.000 Euro verfügt.
Ayinalems Gruppe trifft sich regelmäßig und entscheidet über die Aufnahme von neuen Mitgliedern. „Interessierte Frauen müssen uns beweisen, dass sie drei Monate etwas Geld zur Seite legen können.“ Besonders gerne unterstützt Ayinalem junge Frauen, die gerade die Schule beendet haben und arbeitslos sind.
Ayinalem selbst besuchte nie eine Schule. Mit neun Jahren wurde sie mit einem älteren Mann verheiratet, den sie nie zuvor gesehen hatte. Mit 13 Jahren bekam sie ihr erstes Kind, acht weitere folgten. Trotzdem konnte Ayinalem allen ermöglichen, zur Schule zu gehen. Sie arbeiten heute als Lehrerin, Lkw-Fahrer, Ladenbesitzerin, eine Tochter studiert.

„Meine jüngste Tochter Kalkidan ist die erste, die nicht barfuß zur Schule gehen muss. Für sie kann ich auch endlich die Schulbücher bezahlen“, sagt Ayinalem, die an einem Kurs in Familienplanung teilnahm, den Menschen für Menschen in Midda anbot und nun mit einem Hormonstäbchen verhütet.
Impulse verbreiten sich in Midda weiter
Immer wieder reist sie in Dörfer, um mit Frauen über Nachteile zu sprechen, die zu viele Kinder mit sich bringen. „Ich hatte lange keine andere Option, da ich nicht einmal wusste, wie ich verhüten soll. Daher möchte ich die Frauen aufklären.“
Diese Weitergabe von Wissen – von Freundin zu Freundin, von Nachbarin zu Nachbarin, von Dorf zu Dorf – gehört ebenfalls zum Nachhaltigkeitskonzept von Menschen für Menschen. Impulse verbreiten sich und finden selbst Jahre nach dem Rückzug der Stiftung noch Nachahmer.
Einige Kilometer von Meragna entfernt, steht Shita Hailu auf seinem Feld. Er bückt sich, greift nach einem Büschel des äthiopischen Nationalgetreides Teff, schneidet es gekonnt mit einer Sichel ab. Das kleine Feld des 74-Jährigen liegt am Fuße des Berges Shimbra Meda, der einst dicht bewaldet war.
Nach dem Kahlschlag die Katastrophe
Nach und nach holzten ihn die Bewohner der umliegenden Dörfer ab, um Brennmaterial und Bauholz zu gewinnen. Ohne Bäume und Sträucher gab es bei Regen keinen Halt mehr: Wasser schoss die Hänge hinab, riss Erde mit. Wie der Acker von Shita versanken viele Felder im Morast. Vieh rutschte auf dem steinig glatten Boden aus und stürzte in die Tiefe. Familien waren und sind in der abgelegenen Region von der Landwirtschaft und ihren Nutztieren abhängig, „Wir konnten nie sicher sein, ob wir genug zu essen haben“, erinnert sich Shita.
Um die Lebensgrundlage der Menschen wiederherzustellen und sie nachhaltig zu erhalten, startete Menschen für Menschen 2008 am Shimbra Meda ein Aufforstungsprojekt. Die Bauern pflanzten auf den abgeholzten Hügeln Setzlinge, die ihnen von der Stiftung zur Verfügung gestellt wurden: Akazien, Silbereichen, Kordien – heute übersäen Bäume und Büsche die Hänge.
„Seitdem der Berg wieder grün ist, können wir auf unseren Feldern Teff, Sorghum und Bohnen anbauen und müssen nicht mehr hungern“, sagt Shita, dessen tiefe Falten von einem harten Leben erzählen. Heute erwirtschaftet er auf dem Feld am Hang und auf zwei weiteren Äckern sogar regelmäßig einen Überschuss. “Habe ich zu viel, schenke ich es anderen oder spende es der Kirche.”

Doch was sich heute nach einem wirksamen Schritt anhört, kam in den Gemeinden am Fuße des Berges zu Beginn nicht gut an. „Viele haben unseren Vorschlag, den Berg zur Schutzzone zu erklären, abgelehnt. Sie brauchten das Holz und wussten nicht, wo sie es sonst schlagen sollten“, erinnert sich Wossenyelewem Mengistu, damals Projektleiter der Äthiopienhilfe in Midda.
Es gebe immer diejenigen, die Veränderungen ängstlich und kritisch gegenüberstehen – vor allem dann, wenn sie von außen an eine Gemeinde herangetragen werden. Und es gebe solche, die offen sind für Innovationen. An diese Menschen richteten sich die Mitarbeiter der Stiftung und fuhren mit ihnen zu einem erfolgreichen Aufforstungsprojekt in einem benachbarten Projektgebiet.
Alle haben verstanden: Der Wald muss geschützt werden
„Unsere Hoffnung war, dass diese Bauern und wichtige Persönlichkeiten der Gemeinde auf dem Feld beim gemeinsamen Kaffee von unseren Erfolgen berichten.“ Um den Familien außerdem eine Quelle für Brennholz zu geben, schenkte Menschen für Menschen ihnen schnell wachsende Eukalyptus-Setzlinge, die sie im eigenen Garten pflanzen konnten.
Die Überzeugungsarbeit funktionierte: Heute haben Shita und die anderen Bewohner am Shimbra Meda verstanden, dass der Wald auf dem Berg geschützt werden muss – für sie und ihre Kinder und Enkel. „Wir sind so froh, dass der Wald wieder da ist“, sagt Shita. „Niemand soll ihn jemals wieder anfassen.“