Doch in der äthiopisch-orthodoxen-Kirche lebt Ge’ez bis heute weiter. Die Kirchenschulen dominierten lange das Bildungssystem und galten als die einzigen Institutionen, in der die Bevölkerung Lesen und Schreiben lernte. Bis heute finden sich überall in Äthiopien solche Schulen, vor allem in ländlichen Gebieten. Zumeist vor der Einschulung besuchen Kinder, wie in Gorbela, zunächst das sogenannte „Haus des Lesens“ und lernen die Grundlagen von Ge’ez, aber auch das amharische Alphabet kennen, lesen erste Bibeltexte und lernen Gebete auswendig. Anwärter für einen beruflichen Werdegang in der Kirche studieren weiter, bis zu mehrere Jahrzehnte: Sie vertiefen ihre Sprachkenntnisse, interpretieren alte Texte. Sie lernen Kirchengesang, -musik und -tanz sowie die Auslegung der Bibel. Als besonders fortgeschritten gilt das „Haus der Poesie“. Während dieses Ausbildungsschrittes komponieren die mittlerweile erwachsenen Schülerinnen und Schüler eigene Verse und neue Werke. Von diesem Weg sind die Mädchen und Jungen, die nach ihrem Unterricht in die Nachmittagssonne Gorbelas treten, noch weit entfernt. Doch wer weiß, vielleicht verfassen sie irgendwann eigene Gedichte auf Ge’ez – und erhalten die Sprache so weiter am Leben.