Schüler*innen lernen die Sprache Ge'ez in der orthodoxen Kirche in Gorbela.

Haus des Lesens: Die altäthiopische Sprache Ge'ez lebt

24
Apr. 2025

Land & Leute

In Wellen durchdringen ihre Stimmen den Raum. Zunächst die des Lehrers, danach ein Chor aus etwa 40 Mädchen und Jungen. In weiße Tücher gehüllt, dicht auf den Holzbänken des Unterrichtsraums gedrängt, sprechen die Kinder ihrem Lehrer nach. Wieder und wieder lesen sie die Schriftzeichen vor, die vor ihnen auf weißen Plakaten an der Wand hängen. Mehrmals die Woche kommen die Kinder in die orthodoxe Gemeinde in Gorbela, der Hauptstadt des Bezirks Ankober, rund 170 Kilometer nordöstlich von Addis Abeba. Sie lernen hier das Alphabet einer sehr alten Sprache: Ge’ez.

 

Die vermutlich ältesten schriftlichen Nachweise stammen aus dem Königreich Aksum, welches ab dem ersten Jahrhundert nach Christus existierte und später in seiner größten Ausbreitung das heutige Eritrea, Teile Äthiopiens, des Sudans und des Jemens einschloss. In Aksum schrieb und unterhielt man sich in Ge’ez. Nach dem Untergang des Reichs verlor das Altäthiopisch, wie Ge’ez auch bezeichnet wird, langsam an Bedeutung. Andere Sprachen lösten es im Alltag ab. Schließlich starb Ge’ez als gesprochene Sprache aus. Als Schriftsprache blieb sie zunächst erhalten. Zumindest bis Mitte des 19. Jahrhunderts, als Amharisch, die heutige Amtssprache Äthiopiens, Ge’ez auch aus der Literatur verdrängte.

Doch in der äthiopisch-orthodoxen-Kirche lebt Ge’ez bis heute weiter. Die Kirchenschulen dominierten lange das Bildungssystem und galten als die einzigen Institutionen, in der die Bevölkerung Lesen und Schreiben lernte. Bis heute finden sich überall in Äthiopien solche Schulen, vor allem in ländlichen Gebieten. Zumeist vor der Einschulung besuchen Kinder, wie in Gorbela, zunächst das sogenannte „Haus des Lesens“ und lernen die Grundlagen von Ge’ez, aber auch das amharische Alphabet kennen, lesen erste Bibeltexte und lernen Gebete auswendig. Anwärter für einen beruflichen Werdegang in der Kirche studieren weiter, bis zu mehrere Jahrzehnte: Sie vertiefen ihre Sprachkenntnisse, interpretieren alte Texte. Sie lernen Kirchengesang, -musik und -tanz sowie die Auslegung der Bibel. Als besonders fortgeschritten gilt das „Haus der Poesie“. Während dieses Ausbildungsschrittes komponieren die mittlerweile erwachsenen Schülerinnen und Schüler eigene Verse und neue Werke. Von diesem Weg sind die Mädchen und Jungen, die nach ihrem Unterricht in die Nachmittagssonne Gorbelas treten, noch weit entfernt. Doch wer weiß, vielleicht verfassen sie irgendwann eigene Gedichte auf Ge’ez – und erhalten die Sprache so weiter am Leben.

Grundkurs Unterricht im Klassenzimmer für die Sprache Ge'ez
Regelmäßig kommen die Kinder für den Grundkurs in ihre Kirchengemeinde.
Kinder werden in der altäthiopischen Sprache Ge'ez unterrichtet.
Jung lernt alt: Die Mädchen und Jungen büffeln die uralte Sprache Ge'ez.

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